Perfekte Probe
Porsche setzte beim vollelektrischen Cayenne bis zum Einsatz der Vorserienfahrzeuge ganz auf die digitale Erprobung. Doch der Faktor Mensch ist unerlässlich: Im Rahmen der finalen Testfahrten brachten die Piloten das SUV an seine Grenzen – bei eisiger Kälte und glühender Hitze.
Schneller, effizienter, digitaler. So lautet der Anspruch bei neuen Porsche-Modellen. Beim vollelektrischen Cayenne, der künftig parallel zu den Verbrenner- und Hybridfahrzeugen der SUV-Modellreihe angeboten wird, gilt dieser Dreiklang auch für die Erprobung: Erstmals hat Porsche eine komplett neue Generation ohne frühe Prototypen entwickelt.

Experte:
Sascha Niesen, Teamleiter Erprobung Gesamtfahrzeug in Weissach, war kontinuierlich an der Entwicklung beteiligt.„Es war das erste Projekt, bei dem wir nach der virtuellen Gesamtfahrzeugerprobung direkt mit der Vorserienfertigung begonnen haben“, sagt Sascha Niesen, Teamleiter Erprobung Gesamtfahrzeug im Porsche-Entwicklungszentrum Weissach. Die sogenannte Baustufe, wie die in Einzelanfertigung aufgebauten Prototypen intern bezeichnet werden, konnte komplett entfallen: Rund 120 zeitaufwändig herzustellende Versuchsfahrzeuge wurden weitestgehend digital ersetzt. Simulation und Künstliche Intelligenz haben die Fahrzeugerprobung einschneidend verändert – und verkürzt. Bereits in der Konstruktionsphase schickten die Ingenieure virtuelle Prototypen auf digitale Testrunden. Drei wesentliche Voraussetzungen dafür wurden über Jahre hinweg bei Porsche geschaffen.
Erstens die umfassende und präzise Kenntnis über die Außenwelt: Der Nürburgring ist ebenso komplett mit allen Fahrbahneigenschaften digitalisiert wie Alltagsstrecken mit unterschiedlichen Straßenbelägen oder Offroadgelände – virtuell jeweils kombinierbar mit allen möglichen Klima- und Wetterbedingungen. Zweite Voraussetzung: Erfahrung.
„Wir können das einzigartige Wissen von Kollegen nutzen, die teils jahrzehntelang Know-how in der Realerprobung angesammelt haben“, erklärt Niesen. „Sie können genau beurteilen, wie sich ein Fahrzeug verhalten muss, wenn es den Namen Porsche tragen soll.“ Und drittens haben die Detailtiefe der Datenbanken und die Rechenleistung so stark zugelegt, dass Simulationen in Echtzeit möglich geworden sind.
So konnten die Ingenieure den Cayenne nicht nur virtuell darstellen, sondern auch direkt virtuell erproben. In einer Entwicklungsphase, in der Bauteile zunächst digital vorhanden und damit leicht veränderbar sind, testeten die Experten via Virtual Reality (VR) die ersten Eindrücke der künftigen SUV-Generation. Die Ergebnisse der digitalen Erprobung wurden mit Prüfstandtests realer Komponenten verifiziert. Ein Schwerpunkt in dieser Kombination von virtueller und physischer Erprobung lag auf dem Zusammenspiel von Batterie und Antriebsstrang, Aerodynamik und Klimatisierung. Zahlreiche neue Technologien sind in dem rein elektrischen SUV verbaut. Hierfür wurde ein völlig neuer Verbundprüfstand entwickelt. Auf diesem lassen sich Antrieb, Batterie, Energiemanagement sowie Ladesystem gemeinsam und unter realitätsnahen Bedingungen testen.

Fahrzeuglose Entwicklung:
Auf dem Verbundprüfstand treffen Simulation und physische Systeme wie Antrieb, Batterie, Thermomanagement sowie Ladesystem mit ihren Steuereinheiten zusammen und ermöglichen Tests unter realitätsnahen Bedingungen.Die vier leistungsstarken Synchronmotoren des Prüfstands können so programmiert werden, dass sie unterschiedliche Fahrbahnbedingungen, Beschleunigungswiderstände sowie Kräfte beim Rekuperieren und Bremsen präzise simulieren. „Die Maschinen sind so hoch entwickelt, dass wir sogar verschiedene Asphaltoberflächen oder Reifenschlupf darstellen können“, sagt Ingenieur Marcus Junige. Dabei können auch die Umgebungsbedingungen vollständig simuliert werden. Heizen oder Kühlen von einzelnen Bauteilen bis hin zum kompletten Testaufbau sind ebenso möglich, wie aerodynamische Bedingungen zu generieren. „Unsere Versuchsprogramme sind vom Anspruch her im Wettbewerb einmalig“, sagt Junige. Spektakuläres Beispiel: eine Runde Nürburgring-Nordschleife – am Limit. Den Input dafür liefert der virtuelle Prototyp. Alle simulierten Impulse werden in Echtzeit in den Verbundprüfstand eingespeist.
„Das Fahrzeug muss unter allen Bedingungen immer die volle Leistung bringen, sobald der Fahrer sie abruft“, unterstreicht Junige. Insbesondere für das Thermomanagement des Hochleistungsfahrzeugs ist diese sogenannte maximale Stromfreigabe Stress pur: Um die Batterie unter allen Bedingungen optimal zu konditionieren, sind Heizung und Kühlung leistungsfähiger ausgelegt als bei jedem Elektro-Porsche zuvor. Zu jedem Zeitpunkt der Nürburgring-Runde wird verglichen, welche Werte auf dem Verbundprüfstand gemessen werden und was für den digitalen Zwilling zuvor errechnet wurde. Dabei bestätigte sich, dass die Simulation so fortgeschritten ist, dass es nur noch geringfügige Abweichungen gibt. Durch Rückspielen der physischen Erprobungsergebnisse und Anpassung der Modelle oder Modellparameter ließen sich diese Abweichungen beheben.

Reale Erprobung:
Nach den virtuellen Tests stellen die Ingenieure das Vorserienmodell in der Wüste auf den Prüfstand.Die Verlässlichkeit für den Fahrer gilt für alle Lebenslagen, auch und insbesondere beim Laden. „Egal wie der Cayenne vorher bewegt wurde, er muss immer für das Schnellladen konditioniert sein“, erklärt Junige. Sobald der Fahrer im System bestätigt, welche Ladestation er anfahren will, berechnet der Cayenne die optimale Vorbereitung. „Ein Stau auf der Strecke bedeutet etwa, dass das Temperieren später und langsamer erfolgen kann. Das spart Energie“, erläutert Sascha Niesen. Im virtuellen Erprobungsprogramm wurden alle wahrscheinlichen Situationen vor und während des Schnellladens simuliert und auf dem Prüfstand mit realen Komponenten getestet.
Doch auf dem virtuellen Testprogramm des vollelektrischen Cayenne stand weit mehr als nur schnelle Runden auf dem Nürburgring oder Laden unter Extrembedingungen. „Im Grunde besteht der Unterschied zur Erprobung bei anderen Herstellern darin, dass Porsche sehr viele Fahrsituationen abprüft“, sagt Marcus Junige. Die Realität gibt sie vor: „Alles, was der Kunde mit dem Fahrzeug machen könnte, steht bei uns auf der Agenda“, ergänzt Sascha Niesen. Und kein anderer Porsche wird so vielfältig eingesetzt wie der Cayenne: Er ist Luxus-SUV und Sportwagen, Zug- und Geländefahrzeug, Familienauto und Dienstwagen. „So viele Anforderungen auf einmal gab es bei einem Elektrofahrzeug bisher nicht“, sagt Marcus Junige. Und hier erlebten die Erprobungsingenieure eine Überraschung.

Abenteurer:
Der Cayenne wird auf nahezu jeden Einsatz vorbereitet. Hier: die letzten Offroadtests auf einem Parcours in Spanien.In der Simulation erklomm der Cayenne schon sehr überzeugend diverse Steigungen. Als das Team mit den ersten Vorserienfahrzeugen auf Erprobung ging, zeigte sich die Realität nochmals eindrucksvoller. „Es war ein absolutes Highlight, wie dieses Auto die Dünen hochfuhr“, schwärmt Sascha Niesen. „So hatten wir das mit unseren Erfahrungen nicht erwartet.“ Durch den fein geregelten Elektroantrieb lässt sich der Vortrieb so dosieren, dass der Cayenne aus dem Stand mühelos die Dünen meistert. „Mit einem Verbrennerfahrzeug kommt man da nicht hoch, ohne vorher Schwung zu holen“, sagt der Entwickler. Der E-Antrieb entwickelt dagegen schon bei der ersten Umdrehung sein volles Drehmoment. Gleichzeitig sind minimale Geschwindigkeiten von einem oder zwei Kilometern pro Stunde möglich: „Als hätte man eine unendlich große Untersetzung“, so der Ingenieur. Zudem erfordert der Fahrspaß in den Dünen sehr viel Motorleistung. Eine Paradedisziplin für den Cayenne. „Wir haben Beschleunigungswerte gemessen, die auf dem Niveau von Supersportwagen liegen“, sagt Sascha Niesen.
In der Beschleunigung von null auf 100 km/h steht eine Zwei vor dem Komma. Ganz oben im Lastenheft stand, dass der Cayenne Electric in jeder Phase gut fahrbar und beherrschbar sein muss. Dies wurde in der Simulation unzählige Male durchgespielt, „aber in der Realität kann nur der Mensch den letzten Feinschliff geben“. Bisher dienten dazu die frühen Prototypen. Diese Phase konnte jetzt aufgrund des hohen Entwicklungsstandes problemlos auf die realen Vorserienfahrzeuge übertragen werden. Traditionell dient der Nürburgring als Gradmesser der Feinabstimmung. Noch immer ist das menschliche Fahrgefühl empfindlicher und von mehr Einflüssen geprägt, als es die Simulation nachvollziehen kann. Schließlich wird die fahrdynamische Rückmeldung auch vom Reibwert der Reifen bestimmt. „Der Übergang von der Haft- zur Gleitreibung im Grenzbereich lässt sich virtuell nur sehr schwer darstellen“, sagt Niesen. Zwar könne durch die virtuelle Erprobung der Zwischenschritt mit den frühen Prototypen übersprungen werden, die Vorserienfahrzeuge seien für Porsche jedoch unersetzlich.

Rund 1.000 Fahrzeuge entstanden in der Vorserie, drei Viertel davon für die finale Erprobung. Die große Anzahl ergab sich aus der Vielfalt der Varianten, multipliziert mit zwei Karosserieformen. „Was das Auto in der Simulation konnte, musste es auch in der Realität erfüllen“, bilanziert Niesen.
Und das ist gelungen: in arktischer Kälte wie in glühender Wüstenhitze, auf und abseits der Straßen dieser Welt, auf den Prüfständen und im Crashlabor. In heißen Gegenden wie den Golfstaaten oder im US-amerikanischen Death Valley mussten bei Temperaturen bis 50 Grad Celsius unter anderem Klimatisierung und Thermomanagement von Batterie und Antrieb Funktionsprüfungen über sich ergehen lassen. Im minus 35 Grad kalten Finnland standen Kaltstarts und Klimatisierung, Traktion, Handling und Bremsverhalten sowie Performance der Fahrdynamik-Regelsysteme auf dem Testkalender der Vorserienfahrzeuge. Und bei beiden Klimaextremen musste der vollelektrische Cayenne immer problemlos schnell laden können – kaum ein Hersteller verlangt seinen Fahrzeugen mehr ab als Porsche. Im Rahmen der Dauerläufe wurde ein Fahrzeugleben unter so harten Einsatzbedingungen simuliert, wie sie in Kundenhand nur im Grenzbetrieb erfahren werden. Unter Alltagsbedingungen absolvierten die Fahrzeuge im Schichtbetrieb innerhalb weniger Monate jeweils mehr als 150.000 Kilometer – im Stadtverkehr, auf Landstraßen und Autobahnen.

Digitale Entwicklung:
Bevor die Vorserienfahrzeuge entstanden, wurde der Cayenne Electric virtuell und auf dem Prüfstand getestet.Das Resultat: Die Verlagerung auf mehr Simulation und weniger physische Erprobung hat sich bewährt. „Die Zeit war reif dafür“, sagt Niesen. „Und das Projekt bot die Chance.“ Mit beeindruckendem Erfolg: Der vollelektrische Cayenne entstand in 20 Prozent weniger Entwicklungszeit als mit konventioneller Strategie. Und durch weniger Materialaufwand ressourcenschonender. Schneller, effizienter, digitaler.
Verbrauchsangaben
911 GT3 RS
Panamera Turbo E-Hybrid
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4,4 – 3,6 l/100 km
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11,0 – 10,1 l/100 km
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19,8 – 18,8 kWh/100 km
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99 – 81 g/km
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C – B Klasse
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C – B Klasse
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G Klasse