Die Philosophie des Bremsens
Porsche Schweiz: Der Schweizer Le-Mans-Sieger erklärt am Steuer des neuen Über-Porsche, was einen auf der Rennstrecke wirklich schnell macht, und warum Geschwindigkeit für jeden etwas anderes bedeutet.
Mit dem Porsche 911 GT2 RS in Lignières
Verbrauchsangaben
Porsche 911 GT2 RS
CO2-Emission (kombiniert): 269 g/km
Verbrauch innerorts: 18,1 l/100 km
ausserorts: 8,2 l/100 km
kombiniert: 11,8 l/100 km
CO2-Emissionen aus der Treibstoffbereitstellung: 62 g/km
Effizienzklasse: G
Der Durchschnittswert der CO2-Emissionen aller in der Schweiz verkauften Neuwagen beträgt 137 g/km. (Stand 06/2019)
8.03 Uhr an einem schönen Morgen im letzten Sommer im Neuenburger Jura, der Himmel ist leicht bewölkt, die Temperaturen bewegen sich langsam über die 20-Grad-Marke und der Rennfahrer Neel Jani biegt auf den Parkplatz des Rundkurses vom Touring Club Schweiz (TCS) in Lignières ein. Wir sind also unter idealen Bedingungen verabredet für eine Lektion „Rennstrecke“: Der Schweizer Le-Mans-Sieger und FIA-Langstreckenweltmeister will uns zeigen, wie man den neuen Über-Elfer GT2 RS fachmännisch und dynamisch bewegt.
Der gebürtige Rorschacher ist am Vortag von Testfahrten im belgischen Spa zurückgekehrt. Die Nacht war nicht allzu lang, ein kleiner Sohn hält das Ehepaar Lauren und Neel Jani derzeit auf Trab. Trotzdem wirkt Jani konzentriert und fokussiert, sobald er am Steuer des Autos sitzt. Der GT2 RS mit Weissach-Paket in GT-Silber mit viel Carbon und noch mehr Heckspoiler ist ein Champion auf dem schmalen Grad zwischen Alltag und Rennstrecke.
„Wenn sich Carbon-Keramik-Bremsen erwärmen, greifen sie immer noch sehr gut zu.“ Neel Jani
Jani rollt los, gibt Gas, bremst, seine Hände am filigranen Alcantara-Lenkrad scheinen schnell eine fast metaphysische Verbindung zur Strecke herstellen zu können. Nach ein, zwei Einrollrunden nimmt Jani Fahrt auf und äussert erste Erkenntnisse: Man merke, dass der Wagen die Bremsen eines Strassenautos habe. „Sie sind zwar aus Carbon-Keramik, was ein Vorteil ist: Vor allem wenn die Bremsen sich erwärmen, greifen sie immer noch sehr gut zu. Aber der Unterschied zu den Bremsen in einem Rennwagen ist deutlich, die würden nochmal ganz anders zubeissen. Für ein Strassenauto wäre das allerdings unfahrbar“, sagt Jani bestimmt.
Auch wenn der GT2 RS fantastische Beschleunigungswerte erzielt – bloss 2,9 Sekunden vergehen von 0 auf 100 km/h – sagt Jani: „Das Bremsen ist eigentlich das Wichtigste beim Autofahren.“ Während der schreibende Beifahrer ihn fragend anschaut, führt Jani gleich anschaulich vor, wie man richtig bremst: „Was ich mache, ist, im ersten Moment sehr hart zu bremsen, dann nehme ich den Druck aber gleich wieder langsam weg.“ Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, wie er das meint, geht Jani vom Gas und zeichnet mit dem Finger eine Verlaufskurve auf den Armaturenträger. Sie steigt steil an und sinkt in einem etwas grösseren Winkel wieder ab.
„Die meisten Leute bauen den Bremsdruck langsam auf, halten ihn und bauen ihn langsam wieder ab. Zum Zeitpunkt, wenn der Durchschnittsfahrer also seinen Bremsdruck aufbaut, baut ihn der Rennfahrer schon wieder ab“, sagt Jani und zeichnet nochmals eine entsprechende Kurve mit dem Finger. „Viele Unfälle auf der Strasse passieren, weil die Leute nicht richtig bremsen können“, findet er.
Beim Bremsen wirken die Gesetze der Physik und die Fähigkeiten des Autos zusammen.
Um die theoretischen Unterschiede lebendig werden zu lassen, beschleunigt Neel Jani den GT2 RS jetzt energisch, nachdem er ihn während seiner Ausführungen routiniert-gemütlich durch die Lignières-Kurven bewegt hat. „Der Durchschnittsfahrer würde so bremsen“, sagt Jani, fährt die nächste Biegung zu schnell an, bremst verzögert, korrigiert und bremst weiter. „Auf diese Art ist der Bremsweg viel länger und die Dynamik des Autos verändert sich komplett.“
„Viele Unfälle auf der Strasse passieren, weil die Leute nicht richtig bremsen können.“
Der Rennfahrer zeigt noch einmal wie man es besser macht und schwärmt dabei vom Einlenkverhalten des GT2 RS: „Beim Bremsen verlagert sich das Gewicht des Autos auf die Vorderachse, deshalb lenkt der so gut. Und wenn ich wieder aufs Gas trete, kommt das Gewicht nach hinten und hilft so mit dem Hinterradantrieb, das Auto aus der Kurve zu drehen.“
Der Wagen beschleunigt auf knapp 170 km/h, bevor eine Kurve mit mehr als 90 Grad Radius folgt. Vor dem Einlenkpunkt tritt Jani hart in die Pedale, lenkt präzise ein, baut gleichzeitig Bremsdruck ab und lässt die Gesetze der Physik und die erstaunlichen Fähigkeiten dieses Autos in hochästhetischer Manier zusammenwirken. „Indem ich das Bremspedal so schnell wie möglich wieder loslasse, manipuliere ich das Auto weniger und nehme den Speed mit“, erklärt der sympathische Berner, während er schnell hochschaltet, um das Heck des Autos wieder zu beruhigen – „ein so genannter Short Shift“, erklärt er.
„Die grössten Unterschiede zwischen verschiedenen Fahrern in einem Feld liegen in der Bremstechnik“, ist Jani überzeugt. Der entscheidende Moment sei das Timing zwischen hartem Bremsen, Druckabbau und reiner Rollphase – dort zeige sich das wahre Talent eines Rennfahrers. Jani bringt es auf den Punkt: „Wenn du nicht bremsen kannst, wirst du nie schnell sein!“ Die Stammtischweisheit „Wer bremst, verliert“, sei vielleicht ein gelungener Machospruch, aber leider falsch.
2016 hat Jani mit Porsche die LMP1-Klasse in Le Mans gewonnen.
So sei Fahrdynamik letztlich das Ergebnis der richtigen Bremstechnik. „Am Kurvenausgang aufs Gas steigen kann jeder. Die entscheidende Frage ist, wie schnell bist du bis dahin.“ Jani weiss genau, wovon er spricht: 2016 hat er im 24-Stunden-Rennen von Le Mans im Porsche 919 Hybrid den ersten Platz im Gesamtklassement errungen – inklusive Poleposition und Rundenrekord. „Unser Auto war in Bezug auf den Top-Speed nicht ganz vorne, aber wir sind gut in die Kurve gekommen und sehr schnell wieder hinaus – eigentlich ist das auch die Stärke des GT2 RS“, sagt Jani.
700 PS bringt der Porsche 911 GT2 RS bei 7.000 Umdrehungen/Minute über die Hinterräder auf die Strasse, aber Neel Jani ist der Meinung, das Auto sei weit entfernt davon, eine „Heckschleuder“ zu sein. „Die Vorteile des Hinterradantriebs sind eben die Kurvendynamik und die Gewichtsreduktion. Mit Allradantrieb wäre dieses Auto schwerer, der Tank würde kleiner – das sind Nachteile auf der Rennstrecke“, sagt der 35-Jährige.
„‚Wer bremst, verliert‘ ist vielleicht ein gelungener Machospruch, aber leider falsch.“
Wir sind jetzt schon fast zwei Stunden unterwegs, Runde um Runde dreht Jani im derzeit schnellsten Elfer und führt eindrücklich vor, zu was dieses Auto in der Lage ist. Erstaunliches Detail am Rande: Das ESP, die elektronische Stabilitätskontrolle, hat Jani nicht ausgeschaltet. „Der Wagen ist so gut ausbalanciert, dass ich es problemlos drin lassen kann, es hindert mich überhaupt nicht daran, dynamisch zu fahren, wenn ich auf der Ideallinie bleibe“, erklärt er. Problematisch würde das ESP nur, wenn es einen durch unerwartete Bremseingriffe irritieren würde, so Jani.
Driften sieht zwar schnell aus, ist aber extrem langsam.
Und dann bestätigt der Profi auch noch, was wir schon geahnt hatten: „Das Schlimmste, was du in einem Rennauto machen kannst, ist zu driften. Das sieht zwar schnell aus, ist aber überdurchschnittlich langsam: Erstens gehen die Reifen kaputt, und zweitens verliert man Energie, weil sich das Auto bereits jenseits der Haftgrenze des Reifens befindet und dadurch langsam wird.“
Von der Philosophie des Bremsens kommen wir nun auf eine grundsätzliche Frage zu sprechen: Was heisst das eigentlich, schnell zu fahren, Neel Jani? „Schnell zu fahren bedeutet, ein kalkuliertes Risiko einzugehen, das hat aber nichts mit Gefahr zu tun. Wenn es für jemanden gefährlich wird, dann fährt er zu schnell für seine Möglichkeiten. Und schnell zu sein bedeutet für jeden etwas anderes: Manche können auf der geraden Landstrasse nur mit 60 km/h unterwegs sein, weil sie sonst die Situation nicht mehr überblicken können. Ein anderer kommt mit 110 km/h auf der gleichen Landstrasse weder an sein eigenes, noch an das Limit des Autos“, sagt der Rennfahrer.
„Das Schöne an meinem Beruf ist letztlich die Suche nach dem Limit. Ich bewege ein technisches Gerät an der Grenze des Möglichen. Wenn ich fahre, muss ich ausserdem immer die Rundenzeit sehen, weil ich mich selber schlagen möchte. Was mich zuerst interessiert, ist das Rennen gegen mich selbst – und erst danach das Fahren gegen meine Gegner.“ Und je schneller man sei, desto wichtiger werde die Kunst der Improvisation. Denn jede Kurve sei anders und das Auto, die Strecke, die Reifen veränderten sich mit der Zeit.
Unsere Zeit auf dem Rundkurs ist abgelaufen, wir wechseln die Plätze und fahren zurück zum Parkplatz. Neel Jani fällt etwas auf: „Am besten fasst man das Lenkrad, indem man die Daumen in die Vertiefung unterhalb der kleinen Ausbuchtungen legt. So hat man die beste Kontrolle.“ Im Vergleich mit der komplexen Kunst des Bremsens ist dies ein einfach zu befolgender praktischer Ratschlag zum Schluss.