ICON: Silber zu Gold

Unmittelbar vor dem 24-Stunden-Rennen von Le Mans 2015 entdecken Porsche-Ingenieure ein Ausfallrisiko. Ein Schock. Ungewöhnliche Maßnahmen ermöglichen den Doppelsieg.  

  


Vier Jahre hat das Porsche-Werksteam auf das große Ziel hingearbeitet: den Gesamtsieg in Le Mans. Es wäre der siebzehnte. Der sechzehnte Triumph von 1998 liegt lange zurück, der Druck ist enorm. Der für die Saison 2015 massiv weiterentwickelte Porsche 919 Hybrid sieht aus wie ein Raumschiff. Unter der aerodynamisch ausgefeilten Kohlefaserhaut arbeiten ein Vierzylinder-Benziner mit Turboaufladung und zwei Systeme zur Energierückgewinnung. Gemeinsam mobilisieren sie nahezu 1.000 PS.

Jetzt, am Freitagabend vor dem Start, laufen die letzten Vorbereitungen unter höchster Anspannung. Gefahrene Bauteile werden ausgebaut, penibel auf etwaige Auffälligkeiten untersucht und durch Neuteile für das Rennen ersetzt. Bei der foto- und messtechnischen Überprüfung von zwei Komponenten haben die Hybridexperten Schäden entdeckt. Es geht um sieben Zentimeter lange Metallstifte. Diese Pins sitzen am Umrichter* des Hybridsystems und müssen die gesamte Leistung von über 400 Kilowatt bei einer Spannung von 800 Volt übertragen. Nie gab es Probleme mit ihnen. Was ist nun anders? Die Erkenntnis: Der 919 fuhr erstmals bei sehr hohen Außentemperaturen. Kann also das Material verantwortlich sein?

Tatsächlich ergibt die schnelle Ursachenforschung, dass der Zulieferer eine Charge dieser Pins mit einer Zinn- anstelle der geforderten Silberlegierung produziert hat. Optisch sind sie nicht zu unterscheiden, Zinn aber ist deutlich weniger hitzebeständig. Nun müssen die Ingenieure ermitteln, ob die fürs Rennen vorgesehenen Umrichter die falschen Zinn- oder die belastbaren Silberpins tragen. Aber wie? Konzentriert tüftelt Porsche-Ingenieur Martin Füchtner an einer Lösung und findet heraus, dass Silberpins einen grauen Strich auf weißem Papier hinterlassen, Zinnpins hingegen einen gelblichen. Die Tests an den fürs Rennen vorbereiteten Umrichtern ergeben das niederschmetternde Resultat: gelbe Striche. Zinn statt Silber in allen drei Einsatzautos! Ein bedrohliches Ausfallrisiko.

Normalerweise werden die Umrichter in Weissach im staubfreien Reinraum unter Laborbedingungen zusammengebaut. In Le Mans nehmen sie Füchtner und sein Kollege Jens Maurer hinter der Box in einer Stahlhalle auseinander. Der Tausch der Pins gleicht einer OP am offenen Herzen ohne Operationssaal. Doch das Duo Maurer-Füchtner ist nervenstark und arbeitet erfolgreich. Am Ende des 24-Stunden-Rennens feiert Porsche den ersten Le-Mans-Gesamtsieg des 21. Jahrhunderts. Ein Doppelsieg – alle drei Porsche 919 Hybrid kommen ins Ziel. So wird Silber zu Gold.


* Der Umrichter wandelt den Gleichstrom aus der Batterie in den zum Antrieb benötigten Drehstrom um. Bei der Energierückgewinnung ermöglicht er den umgekehrten Weg des Ladestroms zur Batterie.

Heike Hientzsch
Heike Hientzsch